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„Mehrwert für alle Beteiligten“ - Ausbildung mit Behinderung

Junger Mann steht zwischen vielen technischen Modellen

„Wenn Beschäftigte und Betrieb zusammenpassen, ergibt sich wie hier bei der Aktion 100 ein Mehrwert für alle Beteiligten“

EU-geförderte Aktion "100 zusätzliche Ausbildungsplätze für Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen" – Praxisbeispiel beim Berufsförderungswerk Oberhausen

Ausbildungssuchenden jungen Menschen mit Behinderungen eröffnet die „Aktion 100 zusätzliche Ausbildungsplätze" neue Wege zur betrieblichen Ausbildung. Das gilt auch für Marcel Lange, der seine Ausbildung zum Elektroniker für Geräte und Systeme mit der Note „sehr gut“ abgeschlossen hat. Und der Betrieb hat durch Ausbildung eine Fachkraft gewonnen, wie sie auf dem Arbeitsmarkt nur schwer zu finden ist.

In der Arbeitswelt wird das Potential von Menschen mit Behinderung noch immer unterschätzt. Beispielhaft dafür steht der schwierige Berufseinstieg von Marcel Lange bis hin zum Abschluss seiner Ausbildung. Für den heute 28-Jährigen jedenfalls steht fest: „Ohne die Aktion 100 hätte ich die Berufsausbildung gar nicht geschafft.“ Was zuvor viele nicht für möglich gehalten hätten: Die Industrie- und Handelskammer benotete seine Leistungen in der Abschlussprüfung mit einer glatten „1“.

Damit hätte noch vor wenigen Jahren kaum jemand gerechnet. Zwar hatte Marcel Lange nach seinem Realschulabschluss in einem anderen Unternehmen eine Ausbildung begonnen, doch nach drei Jahren, kurz vor der Prüfung, musste er sich immer öfter krankschreiben lassen. Panikattacken und hartnäckige Schlafstörungen führten zu einem dauerhaften Erschöpfungsgefühl. Eine medikamentöse Behandlung blieb ohne Erfolg. Erst eingehende fachärztliche Untersuchungen diagnostizierten den wahren Grund seiner rein psychischen Beeinträchtigungen: Depressionen.

Laut Gesundheitsministerium gehören depressive Störungen zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Nach wissenschaftlichen Berechnungen erkrankt jeder fünfte Mensch irgendwann in seinem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer Dysthymie, also einer chronisch depressiven Verstimmung. So auch Marcel Lange. Das besondere Problem dabei: Nicht-Betroffene schätzen die Situation völlig falsch ein: „Selbst die eigene Familie“, erinnert sich Marcel Lange, „unterstellte mir Faulheit“ Doch ihr Urteil ging völlig fehl und dementsprechend gab es für ihn auch keine angemessene Hilfe. Marcel Lange: „Ich konnte nicht mehr arbeiten. Es ging einfach nicht mehr“ Die Folge: Kurz vorm Ziel brach er die Ausbildung im Einverständnis mit seinem Arbeitgeber ab.

Endlich eine angemessene Unterstützung

Vielleicht hätte sich an seiner Situation nie etwas geändert – wenn er nicht im Berufsförderungswerk Oberhausen (BFW), in dem er eine berufsvorbereitende Maßnahme absolviert hatte, von der „Aktion 100“ gehört hätte. Sie reagiert auf die Tatsache, dass die Chancen für junge Menschen mit Behinderung gering sind, einen betrieblichen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Das Konzept der Aktion 100 ist klug durchdacht und effizient: Die an ihr teilnehmenden Auszubildenden und Betriebe werden intensiv beraten und begleitet. Ihnen stehen Bildungsträger mit Rat und Tat zur Seite und lotsen kompetent durch die Ausbildung. Lernorte sind die Betriebe, die Berufskollegs sowie die an der Aktion beteiligten Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Letztere schließen mit den Jugendlichen den Ausbildungsvertrag ab, stellen ihnen einen Ausbildungscoach an die Seite, koordinieren die Ausbildung an den verschiedenen Lernorten und führen individuellen Stütz- und Förderunterricht durch.

Die örtliche Agentur für Arbeit entschied: Marcel Lange ist ein geeigneter Kandidat für die Aktion und er selbst willigte ein. Zuständiger Träger war besagtes Berufsförderungswerk Oberhausen. Hier hatte Marcel Lange bereits zuvor an einem Assessment teilgenommen. Sabine Lauer, Stabsstellenleiterin der Aktion 100 im Geschäftsbereich „Diagnostik, Qualifizierung, Integration“ des BFW, erläutert das Verfahren: „In einer sechswöchigen Maßnahme erkunden wir die kognitive und praktische Leistungsfähigkeit einer Person und überlegen, welche Berufe für sie am ehesten in Frage kommen. Wir konnten nachweisen, dass der Beruf, in dem Marcel Lange bereits eine Ausbildung begonnen hatte, tatsächlich seinen Talenten und Interessen entspricht. Das konnten wir auch deshalb gut beurteilen, weil wir selbst im Rahmen unseres Umschulungsangebots das Berufsbild des Elektronikers für Geräte und Systeme anbieten und abdecken.“

Zugute kam Marcel Lange jetzt vor allem die enge sozialpädagogische Begleitung durch das BFW – „und die war auch dringend erforderlich“, ist Sabine Lauer überzeugt, „denn er war anfangs ziemlich unsicher und überkritisch. Schon bei Kleinigkeiten hat er sich übermäßige Sorgen und Gedanken gemacht, ohne jedoch zu passenden Lösungen zu kommen. Er benötigte anfangs ein sehr hohes Maß an Orientierung und Strukturierung.“ All das konnte ihm das vom BFW im Rahmen der Aktion 100 angebotene Coaching bieten. Mehr noch: „Zu Beginn wird die Berufsschule mit hinzugenommen, dann erfolgt die Betriebsakquise, die Ausbildung wird also langsam aufgebaut. Dabei werden die Teilnehmenden schrittweise an die Anforderungen des Arbeitsmarkts herangeführt.“

Im Rückblick findet Marcel Lange dafür nur anerkennende Worte: „Das Beste an der Aktion 100 ist der langsame Start. Man wird nicht gleich zu Beginn überrollt, muss nicht sofort von null auf hundert, sondern fährt von Tag zu Tag ganz langsam hoch. Zunächst sitzt man da gemeinsam in einem Raum und kann über alles ganz offen sprechen - und irgendwann merkt man: Es geht voran, man ist schon wieder einen Schritt weiter.“

Fachliches Können und Selbstwertgefühl

Zum Weiterkommen gehört auch der Blick auf die berufliche Entwicklung. In diesem Fall hieß das: Bewerbungen um einen Dauerpraktikumsplatz als „Elektroniker für Geräte und Systeme“ sowie die Betriebsakquise. In einem Bewerbungstagebuch wurde der Status aller Bewerbungen fein säuberlich notiert. Parallel dazu wurden im BFW Vorstellungsgespräche simuliert, erhielt Marcel Lange Tipps zum Verhalten beim Erstkontakt mit einem Unternehmen. Ebenfalls erfolgreich verlief die Suche nach einem geeigneten Kooperationsbetrieb. Die Wahl fiel auf die GTE Industrieelektronik GmbH in Viersen, marktführend in ihrer Branche und spezialisiert auf innovative Lösungen in der Steuerungs-, Mess- und Sensortechnik.

Wolfgang Mühge von der Personalabteilung des Unternehmens sprach sich nach einem Vorstellungsgespräch und anschließenden Probearbeiten sowie nach einem Aufklärungsgespräch mit dem BFW Oberhausen über die Aktion 100 dafür aus, den Ausbildungsplatz mit Marcel Lange zu besetzen: „Die Intentionen der Aktion haben uns überzeugt. Menschen mit Beeinträchtigungen haben die gleichen Chancen verdient wie alle anderen auch. Betriebe können sich auf unterschiedliche Behinderungen ihrer Beschäftigten einstellen. So mussten wir zuvor schon für einen gehörlosen Mitarbeiter aus Arbeitsschutzgründen in der Brandmeldeanlage ein Lichtsignal installieren. Kein besonderer Aufwand, es gibt andere Probleme, die weitaus schwieriger zu lösen sind. Natürlich verlieren wir nicht aus dem Auge, dass wir ein Wirtschaftsunternehmen sind. Doch das lässt sich gut mit sozialem Engagement kombinieren. Wenn Beschäftigte und Betrieb zusammenpassen und das gemeinsame Handeln von allen getragen wird, ergibt sich wie hier bei der Aktion 100 ein Mehrwert für alle Beteiligten.“

Darin stimmt er mit Carsten Bender, Produktionsleiter und Ausbilder der Firma, überein. Auch er war genauestens über die Aktion 100 informiert, kannte aus Gesprächen mit dem BFW die besondere Ausgangslage im Fall von Marcel Lange. Sein erster Eindruck vom neuen Auszubildenden ist ihm noch in Erinnerung: „Am Anfang war er sehr eingeschüchtert und hat jedes Wort auf die Goldwaage gelegt und jede sachliche Kritik persönlich genommen. Doch gerade in der Produktion kann der Ton mitunter etwas rauer sein. Hinzu kam, dass er wie alle Teilnehmenden der Aktion verspätet in das Ausbildungsjahr eingestiegen war. Um ihn möglichst schnell auf den gleichen Stand wie die anderen Auszubildenden zu bringen, habe ich ihn anfangs besonders gefordert, weil ich ihm aufgrund seiner vorherigen Elektroniker-Ausbildung das Ganze auch zugetraut habe. Da war es gut, dass wir jederzeit unkompliziert gemeinsam mit dem BFW die Missverständnisse aus der Welt schaffen konnten. Mit fortschreitender Arbeit hier im Betrieb ist aber nicht nur sein fachliches Können, sondern auch sein Selbstwertgefühl merklich gewachsen. Insgesamt also eine positive Entwicklung, so dass ich ihm schon Monate vor der Prüfung einen Arbeitsplatz in unserem Unternehmen in Aussicht stellen konnte.“

Eine starke Motivation, in der Wirkung zusätzlich gesteigert durch intensiven Stütz- und Förderunterricht im BFW: Sechs Wochen konzentriertes Lernen vor der ersten und noch mal zehn Wochen vor der zweiten Abschlussprüfung. Das enorme, von Marcel Lange bewältigte Pensum sollte sich auszahlen: Der Prüfungsausschuss der Industrie- und Handelskammer bewertete seine dargebotene Leistung mit der Not „sehr gut“. Schon bald steht die Besten-Ehrung durch die IHK an, Nicht nur Marcel Lange ist hoch zufrieden - auch sein Kooperationsbetrieb, der ihn übernommen hat, denn er hat über die eigene Ausbildung im Rahmen der „Aktion 100“ eine Fachkraft gefunden, die auf dem weitgehend leergefegten Arbeitsmarkt der Branche von anderen Betrieben kaum gefunden wird