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Neue Wege in eine verbindliche Perspektive für die Ausbildung

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Lohnhallengespräch: „Neue Wege in eine verbindliche Ausbildungsperspektive“

Welche Trends und Herausforderungen prägen den Ausbildungsmarkt in Nordrhein-Westfalen? Und: Wie müssen die Verantwortlichen in diesem Handlungsfeld darauf reagieren oder strategisch vorbereitet sein? Zwei Fragen, die im Zentrum des ESF-geförderten Lohnhallengesprächs „Neue Wege in eine verbindliche Ausbildungsperspektive“ standen, das am 8. Juni 2022 in den Räumlichkeiten der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung (G.I.B.) stattfand.

Klarer kann eine Botschaft nicht sein: „Jeder junge Mensch in Nordrhein-Westfalen, der ausgebildet werden will, wird ausgebildet.“ Das ist das oberste Ziel der Partner im Ausbildungskonsens. In ihm haben sich die Landesregierung, die Organisationen der Wirtschaft, die Gewerkschaften, die Kommunen und die Bundesagentur für Arbeit zusammengeschlossen.

Doch weil sich der Ausbildungsmarkt stetig ändert, müssen die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen aus den unterschiedlichsten Institutionen immer wieder neue Wege schaffen oder bewährte Ansätze optimieren, um das Ziel zu erreichen. Genau darum ging es beim Lohnhallengespräch.

Gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede illustrierte G.I.B.-Geschäftsführer Karl-Heinz Hagedorn die Dimension der Herausforderungen, indem er „gesellschaftliche Megatrends“ auflistete, die auch auf dem Ausbildungsmarkt spürbar sind, darunter die Pandemie, der Klimawandel und die technologischen Umbrüche, die demografische Entwicklung und der Fachkräftemangel.

Aus arbeitspolitischer Sicht ist der Fachkräftemangel das dominierende Thema, der durch die Megatrends noch einmal verschärft wird. Auszubildende „zu finden und zu binden“ sei immer mehr eine große Herausforderung für die Unternehmen, innovative Ansätze dazu lägen aber bereits vor. Ziel müsse sein, „bei den Jugendlichen wieder Begeisterung für die duale Ausbildung zu entwickeln“ und „die bestehenden Angebote aller relevanten Akteurinnen und Akteure in diesem Handlungsfeld strategisch zusammenzuführen“. Nur ein aufeinander abgestimmtes Agieren könne sicherstellen, „keinen Jugendlichen zu verlieren“.

Ganzheitlich denken

Das ist auch das Anliegen der Landesregierung, wie Stefan Kulozik, Leiter der Abteilung „Arbeit und Qualifizierung“ im MAGS NRW, betonte. Nordrhein-Westfalen sei auf diesem Gebiet besonders aktiv. Schon vor 25 Jahren wurde der Ausbildungskonsens gebildet und vor elf Jahren „Kein Abschluss ohne Anschluss“ (KAoA) als flächendeckendes System etabliert – mit bundesweitem Vorbildcharakter bis heute.

Zu sagen, damit wäre alles im Griff, wäre allerdings eine Fehleinschätzung, so der Ministerialdirigent, denn „mit der viel beschworenen Transformation aller Lebensbereiche wachsen die Herausforderungen“. Sie zu bewältigen, sei „eine gesellschaftliche, eine öffentliche Aufgabe“.

Und dann wurde Stefan Kulozik ganz konkret. Er wies darauf hin, dass mehr als 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler nach Beendigung ihrer Pflichtschuljahre lieber einen höheren Schulabschluss erwerben, als in die Betriebe zu gehen. So liege das Durchschnittsalter von jenen, die eine Ausbildung beginnen, heute bereits bei 20,5 Jahren.

Weitaus dramatischer noch zwei weitere von ihm genannte Zahlen: Ein Viertel aller Jugendlichen löst seinen Ausbildungsvertrag auf und knapp jeder fünfte Jugendliche in Nordrhein-Westfalen – exakt 18,1 Prozent – verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Mit weitreichenden Folgen für das spätere Leben, denn „gebrochene Berufsbiografien führen nicht selten zu gebrochenen Lebensbiografien, zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und prekärer Beschäftigung.“

Seine Schlussfolgerung: „Wir müssen Karrierewege schaffen für leistungsstarke Jugendliche und zugleich schwächere Jugendliche integrieren. Beides gehört zusammen. Dabei ist jede Ausbildung besser als keine.“ Zugleich empfahl er, „ganzheitlich zu denken“ und das bestehende System der Berufskollegs in die Überlegungen einer Neugestaltung des Übergangssystems einzubeziehen. Sein Fazit: „Wir können und dürfen uns auf dem Erreichten nicht ausruhen, im Gegenteil: Wir müssen uns noch mehr engagieren als in der Vergangenheit, wir brauchen neue Impulse, wir brauchen einen neuen Schub!“

Ausbildungsqualität steigern

Die von Stefan Kulozik genannten Daten ergänzte Dr. Tobias Maier vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) durch weitere Fakten zum Ausbildungsmarkt. Hier ist erkennbar, dass sich die Angebot-Nachfrage-Relation zugunsten der Jugendlichen verschoben hat. Vor allem in den Metropolregionen Nordrhein-Westfalens gebe es Versorgungs-, Besetzungs- und Passungsprobleme.

Im vergangenen Jahr aber ist in Nordrhein-Westfalen ein Anstieg neu abgeschlossener Ausbildungsverträge um 8,6 Prozent zu verzeichnen, wobei der Zuwachs vor allem aus Neuabschlüssen in Handwerk und Landwirtschaft resultiert. Positiv auch, dass sich der langjährige Rückgang an Ausbildungsplätzen vor allem in Klein- und Kleinstbetrieben stoppen ließ. Nicht wenige von ihnen hatten sich aufgrund erfolgloser Rekrutierungsbemühungen komplett vom Ausbildungsmarkt zurückgezogen

Aufschlussreich ist die genauere Analyse der Besetzungsprobleme: So ist die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen nach den Erkenntnissen des BIBB-Forschers dann besonders hoch, wenn Betriebe einen Hauptschulabschluss als Mindestvoraussetzung nannten.

Grund dafür ist nach Ansicht von Dr. Tobias Maier keineswegs nur die sinkende Zahl an Ausbildungsplatznachfragenden mit Hauptschulabschluss, sondern auch die Tatsache, dass Ausbildungsplätze mit der Mindesterwartung Hauptschulabschluss vielen Jugendlichen als wenig attraktiv erscheinen. Hier sieht der Bildungsforscher die Betriebe gefordert, ihre Attraktivität als Ausbildungsplatzanbieter zu erhöhen. Zugleich deutete er unterdurchschnittliche Erfolgsquoten bei Abschlussprüfungen als Indikator für „Probleme bei der Ausbildungsqualität“. Auch hier sah er betrieblichen Handlungsbedarf.

Strategiediskussion im Ausbildungskonsens

Drei anschließend vorgestellte innovative Ansätze zeigten, wie versucht wird, den Herausforderungen am Ausbildungsmarkt erfolgreich zu begegnen. Allen voran „Kurs auf Ausbildung“, ein mit Landes- und ESF-Mitteln gefördertes Coaching- und Vermittlungsangebot für Ausbildungssuchende, die Unterstützung benötigen. Vorausschauend auch die von der Kreisverwaltung finanzierte Matching-Plattform „beAzubi“ aus dem Kreis Minden-Lübbecke, bei der sich, anders als vielfach in der Vergangenheit, Unternehmen bei den Jugendlichen bewerben. Das Besondere hier: die Profile der Jugendlichen sind anonymisiert und sie geben sie sukzessive frei, wenn Unternehmen sich bei ihnen melden und Interesse an einem näheren Kontakt bekunden.

Sehr differenziert und zielgruppenspezifisch konzipiert auch die drei Innovationsbausteine des mit „REACT“-Mitteln der Europäischen Union finanzierten Projekts „Betriebliche Ressourcen erschließen“ der IHK Düsseldorf, ein Format, das sich auf zwei Zielgruppen fokussiert: Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten, die sich pandemiebedingt vom Ausbildungsmarkt zurückgezogen hatten, systematisch als Ausbildungsplatzanbieter wiederzugewinnen, sowie potenzielle Bewerberinnen und Bewerber aller Schulformen und sozialen Gruppen und hier unter anderem auch migrantisch geprägter Communities. Beides verknüpft mit einem dritten Innovationsbaustein: der stärkeren Verankerung von Wirtschaft in Schulen.

Einem filmischen Kaleidoskop an O-Tönen mit markanten Aussagen von Ausbildenden und Auszubildenden, Schülerinnen und Schülern sowie Coaches aus der Praxis und deren Wünschen für die Zukunft folgte die von Gaby Holz und Eva-Maria Tomczak von der G.I.B. moderierte Podiumsdiskussion mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus Arbeitsmarktpolitik, Industrie und Handwerk, Gewerkschaft und beruflicher Bildung.

Die Fülle an Ideen und Erkenntnissen, die dabei zu hören waren, lassen sich hier nur summarisch und in kleiner Auswahl wiedergeben: Hier ging es vor allem um den Bedeutungszuwachs von Sozialkompetenz, um die differenzierte Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen, „ohne den Jugendlichen paternalistisch zu begegnen“, sowie um ein möglichst frühzeitiges Angebot für individuelles Coaching als Erfolgsfaktor zur Befähigung der Jugendlichen zu einer informierten Entscheidung für eine selbstbestimmte berufliche Zukunft, verbunden mit einer verbindlichen Ausbildungsperspektive.

Wünschenswert sei darüber hinaus die verstärkte Zusammenarbeit aller Partner der Handlungsgemeinschaft mit den allgemeinbildenden und eine bessere personelle und materielle Ausstattung der beruflichen Schulen. Das würde die notwendigen Kapazitäten schaffen, dass auch die Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen die Betriebe aufsuchen können. Anzustreben sei darüber hinaus die (Wieder-)Einführung von Werkunterricht in den allgemeinbildenden Schulen sowie die Schaffung eines Unterrichtsfachs „Arbeit und Berufe“.  

Mit Nachdruck regten die Diskutierenden an, die große Gruppe der Jugendlichen ohne Schulabschluss als Potenzial zu gewinnen. Letzteres hatte zuvor schon Jens Peschner von der IHK Düsseldorf mit seinem Aufruf an die Betriebe zutreffend so formuliert: „Ihr müsst sie ausbilden, ihr bekommt sie nicht fertig!“

Bei all dem sah Barbara Molitor, Gruppenleiterin und stellvertretende Abteilungsleiterin im Arbeitsministerium, Nordrhein-Westfalen mit seinen Netzwerkstrukturen „gut aufgestellt für die kommenden Herausforderungen“. Zwar sei die duale Ausbildung entscheidend für die Fachkräftesicherung, aber ebenfalls von Bedeutung seien weitere Bausteine wie eine gezielte Zuwanderung, die Berufsanerkennung sowie die Arbeitsmarktintegration geflüchteter Menschen.

Zudem komme es darauf an, so die Arbeitsmarktexpertin weiter, „Aus- und Weiterbildung zusammenzudenken“, denn Betriebe könnten nicht warten, bis sich technologische Veränderungen im Berufsbild der Ausbildungsberufe wiederfinden, denn „darüber vergehen Jahre“. Hinsichtlich der Durchlässigkeit im Bildungssystem und der Gleichwertigkeit von akademischer und dualer Bildung sah sie auch den Bund in der Pflicht: „Wir können nicht alles auf KAoA abladen“, stellte sie klar. Positiv in die Zukunft blicken ließ sie „die bereits verabredete Strategiediskussion im Ausbildungskonsens“ – denn auch hier arbeiten wieder alle verantwortlichen Akteure zusammen.