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Sozialminister am Rednerpult

"Zukunft Europa: Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten" - Fachtagung diskutiert Lösungswege

ESF-geförderte Veranstaltung in Düsseldorf mit Minister Laumann, Arbeitsministerium plant den Aufbau eines landesweiten Beratungsnetzwerks gegen Arbeitsausbeutung

Viele der nach Deutschland zugewanderten süd- und osteuropäischen Beschäftigten leiden unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Auf der Veranstaltung "Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten" diskutierten Expertinnen und Experten über Problemlagen und Lösungswege. Das gleichnamige ESF-Projekt ermöglicht schnelle und unbürokratische Unterstützung. Minister Laumann würdigte auf der Veranstaltung die Beratungsarbeit gegen „ausbeuterische Beschäftigung“.

Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten - Tagung der DGB/VHS-Kooperation "Arbeit und Leben NRW e.V." in Düsseldorf

"Zukunft Europa: Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten" - der Name des mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten Projekts war zugleich Titel einer Tagung am 30. Oktober 2019 in Düsseldorf. Ziel ist, die ausbeuterische Beschäftigung von Menschen aus Osteuropa am deutschen Arbeitsmarkt wirkungsvoll zu bekämpfen.

EU-Bürgerinnen und -Bürger können grenzüberschreitend in allen EU-Mitgliedsländern ihren Arbeitsplatz frei wählen. Doch viele der nach Deutschland zugewanderten süd- und osteuropäischen Beschäftigten leiden unter menschenunwürdigen Arbeits- und Wohnbedingungen.

Schon früh hat Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann der „ausbeuterischen Beschäftigung“ den Kampf angesagt. Genau das ist das Ziel des vom MAGS NRW geförderten Projekts „Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten“. Jetzt diskutierten die Projektverantwortlichen gemeinsam mit mehr als 100 Expertinnen und Experten in Düsseldorf über bestehende Problemlagen, Ursachen und Lösungsansätze in diesem Handlungsfeld. 

Ungleichbehandlung am deutschen Arbeitsmarkt

Durchgeführt wird das Projekt von „Arbeit und Leben DGB/VHS NRW e.V.“, eine Weiterbildungseinrichtung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen. In seiner Begrüßungsrede kritisierte Dr. David Mintert, Landesgeschäftsführer „Arbeit und Leben“, die massive Ungleichbehandlung vieler aus Süd- und Osteuropa zugewanderter Beschäftigten im Vergleich zu ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen.

Eine Bewertung, die Dr. Sabine Graf, stellvertretende Vorsitzende DGB NRW, in ihrem Statement untermauerte - mit konkreten Hinweisen auf fehlende Mitbestimmung, vorenthaltenen Urlaub, mangelnden Arbeitsschutz, die Nichteinhaltung des Mindestlohnes und eine Bezahlung, die deutlich unter dem Wert der geleisteten Arbeit liegt. „Mit Missbräuchen dieser Art“, so Dr. Sabine Graf, „sind unzählige Menschen aus Osteuropa konfrontiert, die ihr Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrnehmen und in Deutschland ihren Lebensunterhalt verdienen wollen.“

Anerkennende Worte hingegen fand sie für die von Minister Karl-Josef Laumann veranlassten zusätzlichen Stellen für die Arbeitsschutzverwaltung des Landes NRW sowie für das jüngst verabschiedete Gesetz zur Einführung einer Nachunternehmerhaftung in der Kurier-, Express- und Paketbranche zum Schutz der Beschäftigten. Doch das genügt ihr nicht: „Wir brauchen eine umfassende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Zugewanderten aus Osteuropa.“

Drastischer Missbrauch von Werkverträgen

Wie überfällig ihre Forderung ist, veranschaulichten die Bildungsreferentinnen Catalina Guia und Elena Strato sowie der Bildungsreferent Stanimir Mihaylov von „Arbeit und Leben“. Zentrale Aufgabe ihres Projekts ist die Beratung und Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vornehmlich aus Osteuropa zu arbeits- und sozialrechtlichen Fragen in ihrer Muttersprache, meist Rumänisch oder Bulgarisch. Eine weitere Projektaufgabe ist die Netzwerkbildung, also die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren bei der Hilfeplanung und dem Fallmanagement.

Aufschlussreich ist die statistische Auswertung der Beratungsarbeit: So gab es die meisten Fälle in den Branchen Transport/Logistik, Reinigung und Bauwirtschaft, gefolgt von industrienahen Dienstleistungen und der Fleischindustrie. Die Themen der Beratung illustrieren die Vielfalt der Missbrauchsformen: So existiere in der Baubranche ein ganzes System von Sub-Unternehmen, das Tür und Tor öffne für Tricksereien beim Mindestlohn. Nicht minder gravierend seien die Verstöße gegen rechtliche Vorgaben zum Arbeitsschutz mit der Folge vermehrter Arbeitsunfälle sowie mangelnde Hygiene in Unterkünften und Containern.

Im Bereich „Transport und Logistik“ wiederum waren viele Fälle unerlaubter Lenkzeiten bei LKW-Fahrern zu verzeichnen sowie Manipulationen bei Zeiterfassungssystemen wie dem Tachografen auf Druck der Arbeitgeber. Besonders drastisch sind offensichtlich die Problemlagen in der Fleischindustrie. In dieser Branche sind die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über „Werkverträge“ beschäftigt. Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften gehören hier ebenso zum Betriebsalltag wie Unstimmigkeiten bei der Zeiterfassung oder überzogene Mietpreise für Massenunterkünfte. Zudem, so die Referentinnen und Referenten, lässt sich eine „Lohndumping-Spirale“ beobachten, so dass „ein geregeltes Vorgehen gegen den Missbrauch von Werkverträgen dringend notwendig ist.“

Licht und Schatten

Die „Chancen und Herausforderungen offener Arbeitsmärkte“ erläuterte im Anschluss Dr. Timo Baas, Professor für Volkswirtschaftslehre an der DHBW Stuttgart. Nach seinen Berechnungen waren 90 Prozent der EU-Zugewanderten des Jahres 2018 im erwerbsfähigen Alter von 16 bis 64 Jahren, wobei mit 28,4 Prozent der größte Anteil auf die Altersgruppe der 25- bis unter 35-Jährigen entfällt. „Aufgrund ihrer hohen Erwerbsquote - sie lag im Juli 2019 insgesamt bei 58,9 Prozent, die der bulgarischen und rumänischen Bevölkerung sogar bei 66,5 Prozent - tragen EU-Ausländer positiv zu unserer Wirtschaftsentwicklung bei. Sie stabilisieren die sozialen Sicherungssysteme und reduzieren die Auswirkungen des demografischen Wandels.“

Doch in den letzten Jahren hat die Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse stark zugenommen. Zudem, führte der Wissenschaftler weiter aus, besteht die Gefahr einer unterqualifikatorischen Beschäftigung „und damit von „brain waste“ oder von Lohndiskriminierung.“

Häufig ist nach seinen Erkenntnissen Ausbeutung mit bestimmten Beschäftigungsformen wie Entsendung, Saisonarbeit, Soloselbständigkeit und geringfügiger Beschäftigung verknüpft: „Kriminelle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nutzen die Möglichkeit zur internationalen Entsendung von Arbeitskräften, um einen erheblichen Anteil des Lohns einzubehalten und Arbeitsschutzrechte zu untergraben.“ Sehr hoch ist mit bis zu 50 Prozent darüber hinaus die Zahl der EU-Bürgerinnen und -Bürger unter den Obdachlosen. Insgesamt sieht Timo Baas noch großen Forschungsbedarf, vor allen an qualitativen Studien.

„Effektives Gesamtkonzept gegen Arbeitsausbeutung“

Gleichermaßen sachlich wie aufrüttelnd waren die Ausführungen von Prälat Peter Kossen. Der römisch-katholische Priester engagiert sich schon lange gegen Ausbeutung und für „faire und würdige Arbeitsbedingungen“.

Er berichtete von eigenen Erfahrungen sowie von Schilderungen seines Bruders, der als Hausarzt viele Beschäftigte aus Osteuropa behandelt, die in deutschen Großschlachthöfen arbeiten. „Sie stehen am Rande der Totalerschöpfung, arbeiten zwölf Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche. Das erste Wort, das sie in unserer Sprache lernen, lautet: Schneller! Arbeitsunfälle wie Schnittverletzungen sind an der Tagesordnung, ebenso wie Verätzungen aufgrund unzureichender Schutzbekleidung. Wer mit dem gelben Schein kommt, sagt ihnen ihr Arbeitgeber, kann gehen. Sie leben in Rattenlöchern zu Wuchermieten, werden behandelt wie Maschinen und nach Verschleiß ausgetauscht. Integration findet praktisch nicht statt.“

Düster auch der Blick des Prälaten in die Zukunft: Aufgrund ihrer oft völlig unzureichenden und ungerechten Bezahlung sind viele der Zugewanderten „die Altersarmen von morgen“. Sein Resümee: „Die soziale Marktwirtschaft verkauft ihre Seele. All das macht zornig und fassungslos.“ Eindringlich forderte er „Achtsamkeit für Arbeitsmigranten“ und „ein effektives Gesamtkonzept im Kampf gegen die Arbeitsausbeutung.“

Verstärkte Kontrollen und härtere Strafen

Sowohl mit seiner Analyse wie auch mit seinen Forderungen stieß er bei Arbeitsminister Karl-Josef Laumann auf offene Ohren: „Mich treibt das Thema schon seit längerem um.“ Er konnte auf die jüngst erfolgte „Arbeitsschutzaktion Fleischwirtschaft“ verweisen. Dabei hatte der nordrhein-westfälische Arbeitsschutz 30 Schlachthöfe mit rund 17.000 Beschäftigten kontrolliert. Karl-Josef Laumann: „Die Ergebnisse müssen jedem Menschen den Atem stocken lassen. Die Mängelliste umfasst die ganze Bandbreite des Arbeitsschutzrechts. In zahlreichen Fällen wurden zudem teils gravierende Verstöße gegen das Arbeitszeitrecht festgestellt.“

Weil Arbeitsausbeutung indes nicht nur in der Fleischindustrie zu finden ist, plant das Arbeitsministerium den Aufbau eines landesweiten Beratungsnetzwerks gegen Arbeitsausbeutung. „Wir können und wollen nicht zusehen, wie ausländische Beschäftigte in unserem Land ausgebeutet werden, wie illegale Strukturen einen fairen Wettbewerb unterwandern. Das Projekt ‚Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten‘ ist seit Jahren ein wertvoller Bestandteil des Angebots für Beschäftigte, die sich in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen befinden. Gleichzeitig weiß ich auch, dass die Beraterinnen und Berater bisher nicht alle Personen mit Beratungs- und Unterstützungsbedarf landesweit erreichen können. Daher bereiten wir aktuell den Aufbau eines landesweiten Beratungsnetzwerks gegen Arbeitsausbeutung vor. In diesem werden sowohl die bestehenden Landes- und Bundesprojekte als auch die Erwerbslosenberatungsstellen eingebunden“, so Minister Laumann. Fachlich geschult und gut vorbereitet für ihre neue Aufgabe werden sie von der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH (G.I.B.).

Große Übereinstimmung aller beteiligten Akteure zeigte die abschließende Podiumsdiskussion Minister Karl-Josef Laumann, Prälat Peter Kossen sowie Armin Wiese, Geschäftsführer NGG Region Detmold-Paderborn, und Frank Bethke, stellvertretender Landesleiter ver.di NRW, waren sich in nahezu allen Punkten einig: Der Rechtsrahmen zur Bekämpfung von Arbeitsausbeutung ist weiter auszugestalten (Stichwort: Digitale Dokumentationspflicht bei der Arbeitszeiterfassung), Kontrollen sind zu verstärken und Strafen für Verstöße gegen das Arbeitsrecht müssen verschärft werden. Frank Bethke, stellvertretender Landesleiter ver.di NRW: „Nach dem Beschluss des gesetzlichen Rahmens zur Nachunternehmerhaftung wird die geplante Aufstockung der Stellen im Arbeitsschutz / in den Kontrollbehörden von uns als ver.di begrüßt, da nur über wirksame Kontrollen den zum Teil unsäglichen Arbeitsbedingungen 'auf der letzten Meile' in der Paketzustellung effektiv Einhalt geboten werden kann!“

Für Karl-Josef Laumann jedenfalls ist klar: „Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds sind gut angelegt, wenn sie helfen, die im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit entstandenen Verwerfungen zu bekämpfen.“