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„Wir haben schwere Schuld auf uns geladen“

Von links nach rechts: Herr Werner, Herr Lüttig, Frau Finkemeier, Kardinal Woelki, Frau Gebhardt, Herr Frauendienst, Frau Frisch, Herr Oelkers, Frau Kettner-Schroer, Herr Laumann und Frau Middendorf

„Wir haben schwere Schuld auf uns geladen“

Land und Kirchen würdigen Leid von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen in den Nachkriegsjahrzehnten

Tausende Kinder und Jugendliche haben in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie wie auch in Kinderheimen Unrecht und schweres Leid wie Gewalt und sexuellen Missbrauch erfahren. Um dieses anzuerkennen und die Betroffenen um Verzeihung zu bitten, haben Landesregierung und Landtag unter dem Titel „Zuhören – Anerkennen – Nicht vergessen!“ zu einer gemeinsamen Veranstaltung eingeladen. Daran haben auch Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche teilgenommen, die Träger vieler dieser Einrichtungen sind.
19. Juni 2019

Der Präsident des Landtags, André Kuper, wandte sich direkt an die Betroffenen und sagte zur Eröffnung: „Sie haben Leid und Unrecht erfahren: sei es durch körperliche oder seelische Misshandlung. Was mich beschämt und schmerzt, ist die Tatsache, dass der Staat Sie nicht ausreichend beschützen konnte. Das darf nie wieder vorkommen.“ Kuper betonte, dass nach Jahrzehnten des Schweigens und Verleugnens dieses Thema endlich dorthin transportiert werde, wo es hingehöre: „in die Mitte unserer Gesellschaft. Und dafür gibt es keinen geeigneteren Ort als unser Landesparlament, um miteinander auf Augenhöhe sprechen zu können.“

In einer Gesprächsrunde unter anderem mit dem Sozialminister und den Kirchenvertretern schilderten Betroffene ihre Erfahrungen und ihre Erwartungen an die Politik. So zum Beispiel Thomas Frauendienst, der als Kind in einer Einrichtung der Behindertenhilfe gelebt hatte: „Was ich als Kind erleben musste, war das Grauen persönlich. Sie haben mir alles angetan, was man einem Menschen an Leid antun kann. Nur so kann ich mir erklären, dass ich mit viereinhalb Jahren nur drei Kilo wog, ausgehungert und ausgetrocknet war und nur knapp dem Tod entkam. Der Kinderarzt, der mich nach meiner Entlassung begutachtete, gab mir damals noch fünf Tage zu leben. Dass ich diese Qualen überlebte, grenzt an ein Wunder. Die heutige Veranstaltung kann nur der Auftakt sein und darf auf keinem Fall einen Endpunkt markieren. Ich wünsche mir vom Land und den Kirchen, dass sie sich weiter für uns Betroffene einsetzen.“

Für die Landesregierung sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann an die Adresse der Betroffenen: „Die Dinge, die Sie erlebt haben, sind nicht vereinbar mit unserem christlichen Menschenbild. Wir haben als Land und als Gesellschaft schwere Schuld auf uns geladen. Wir haben den Schwächsten in unserer Gesellschaft den nötigen Schutz und ein Leben in Würde versagt. Ich weiß, dass es dafür keine Entschuldigung geben kann. Aber für das Land Nordrhein-Westfalen sage ich aus tiefstem Herzen: Es tut mir unendlich leid. So etwas darf nie wieder passieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir heute in den Einrichtungen viele gut ausgebildete Beschäftigte mit Zivilcourage haben, die das verhindern würden. Und ich möchte mich bei den Betroffenen bedanken. Mit ihrer Beharrlichkeit haben sie dazu beigetragen, dass es zur Gründung der Stiftung ‚Anerkennung und Hilfe‘ gekommen ist und letztlich auch zu der heutigen Veranstaltung.“

Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln: „So wie diejenigen, die schlimme Dinge erfahren haben, diese niemals vergessen können, so dürfen wir als Kirche und als Gesellschaft niemals vergessen, was geschehen ist und wie es geschehen konnte. Gleichzeitig mit dem unverstellten Blick in die jüngere Vergangenheit, gilt es auf Zukunft hin alles (!) dafür zu tun, dass das ‚Nicht vergessen‘ konsequent einhergeht mit einem glasklaren ‚Nie wieder!‘“

Thomas Oelkers, Vorstand des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe: „Auch in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie haben junge Menschen Unrecht und Gewalt erlitten. Im Namen der evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen und im Namen der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe bitten wir die Betroffenen um Verzeihung. Im Bewusstsein unserer historischen Verantwortung setzen wir alles daran, dass heute und in Zukunft Erziehung und Betreuung ohne Zwang und Gewalt im Geist echter Nächstenliebe ausgeübt werden.“

Heike Gebhard, Vorsitzende des Landtagsausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales: „In großer Einigkeit hat sich der Ausschuss dem schreienden Unrecht angenommen, dass die Menschen aus Heimen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie von den Mitteln des Fonds ‚Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschlands sowie der DDR‘ ausgeschlossen waren. Von Juni 2014 an beriet der Ausschuss mit Vertretern der Kirchen und der Einrichtungen in neun Sitzungen, wie den Betroffenen Anerkennung, ein wenig mehr Lebensqualität und ein Stück weit Würde gegeben werden kann. Er führte eine einstimmige Beschlussfassung im Plenum herbei und ließ nicht eher locker, als bis sich Länder, Kirchen und der Bund zu einem gemeinsamen Fonds verständigten. Wir freuen uns sehr, dass wir heute das Leid aller Betroffenen würdigen können. Nun gilt es dafür zu sorgen, dass die bereitstehenden Mittel der Stiftung ‚Anerkennung und Hilfe‘ auch bei den Betroffenen ankommen.“
An der Veranstaltung nahm auch die Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderung sowie für Patientinnen und Patienten, Claudia Middendorf, teil: „Die Schilderungen der Betroffenen über das Geschehene machen einen sprach- und fassungslos. Darum ist es besonders wichtig, dass diese Menschen und ihr Schicksal heute gesehen und gehört werden.“

Zum Hintergrund

Die Anerkennung von Leid und Unrecht in Einrichtungen der Psychiatrie und Behindertenhilfe ist ein wesentlicher Auftrag der unter Mitwirkung des Landes Nordrhein-Westfalen zum 1.1.2017 gegründeten Bundesstiftung „Anerkennung und Hilfe“. Diese richtet sich an Menschen, die als Kinder und Jugendliche in der Zeit vom 23.5.1949 bis zum 31.12.1975 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. vom 7.10.1949 bis zum 2.10.1990 in der DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden.

Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ wurde von der Bundesregierung, allen Ländern und der evangelischen und katholischen Kirche errichtet. Aufgaben der Stiftung sind die öffentliche Anerkennung, die Anerkennung durch wissenschaftliche Aufarbeitung der Leids- und Unrechtserfahrungen, die individuelle Anerkennung und Unterstützung durch finanzielle Hilfe.

In Nordrhein-Westfalen haben bislang rund 2.000 Betroffene eine finanzielle Anerkennung für das ihnen widerfahrene Leid und Unrecht erhalten. Gezahlt werden eine einmalige pauschale Geldleistung von 9.000 Euro sowie eine einmalige Rentenersatzleistung in Höhe von 3.000 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeit von bis zu zwei Jahren bzw. in Höhe von 5.000 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeit von mehr als zwei Jahren.

Anträge können noch bis zum 31. Dezember 2020 gestellt werden bei den Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung in Köln und Münster. Weitergehende Informationen finden sich auf der Internetseite der Stiftung: http://www.stiftung-anerkennung-und-hilfe.de

Für ehemalige Heimkinder hatten Bund, westdeutsche Bundesländer und Kirchen bereits zum 1.1.2012 den Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ eingerichtet, der zum 31.12.2018 seine Arbeit beendet hat. Für die neuen Bundesländer hat es den Fonds „Heimerziehung in der DDR“ gegeben.

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Von links nach rechts: Herr Werner, Herr Lüttig, Frau Finkemeier, Kardinal Woelki, Frau Gebhardt, Herr Frauendienst, Frau Frisch, Herr Oelkers, Frau Kettner-Schroer, Herr Laumann und Frau Middendorf