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Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben - EU-Kommission zu Besuch

Foto: Gruppenfoto

"Behinderung ist nicht in erster Linie das Problem einer einzelnen Person, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe"

Europäische Kommission besucht ESF-Modellprojekt - Veranstaltung im Essener Kompetenzzentrum für Menschen mit Sinnesbehinderungen

Die dauerhafte Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ist ein zentrales politisches Ziel der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wie auch der Europäischen Union. Eine wichtige Funktion übernehmen dabei die vom Land und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderten Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL). Eine Vertreterin der Europäischen Kommission besuchte das Kompetenzzentrum für Menschen mit Sinnesbehinderungen in Essen.

Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben - ungehinderte und eigenständige Teilhabe aller Menschen unterstützen

Der Name ist Programm: Die „Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben“ kümmern sich darum, dass Menschen mit Behinderungen ihr Leben selbst bestimmen können. Damit setzen sie eine zentrale Forderung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen um: die ungehinderte und eigenständige Teilhabe aller Menschen einer Gesellschaft.

Bereits 2016 hatte die nordrhein-westfälische Landesregierung in jedem der fünf Regierungsbezirke des Landes ein Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben eingerichtet. Darüber hinaus gibt es ein Kompetenzzentrum für Menschen mit Sinnesbehinderungen (KSL-MSI), dessen Arbeit landesweit ausgerichtet ist. Für die gute Zusammenarbeit der Zentren untereinander sorgt eine Koordinierungsstelle.

Am 16. Mai 2018 besuchte Stefanie El Miri von der Europäischen Kommission die von Marcus Windisch, Leiter der Koordinierungsstelle, moderierte Veranstaltung im Essener Kompetenzzentrum für Menschen mit Sinnesbehinderungen und konnte sich davon überzeugen, wie vielfältig und wirkungsvoll die Arbeit der nordrhein-westfälischen Kompetenzzentren ist.

Wertvolle Arbeit

Anerkennende Worte für die nordrhein-westfälische Landesregierung fand Alexandra Janaszek, Leiterin des KSL-MSI, in ihrer Begrüßungsrede. Sie habe mit der Einrichtung der Kompetenzzentren „im Vorgriff auf das Bundesteilhabegesetz, das die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken soll, Weitsicht bewiesen.“

Gleich anschließend bekundete Ulrich Kolb vom MAGS NRW seinerseits große Wertschätzung für die Arbeit der KSL. Zugleich erinnerte er an die gemeinsame Erarbeitung der Zielfelder, denen sich die Zentren widmen. Dazu zählen: Menschen stärken, Teilhabe ermöglichen, Strukturen vernetzen, Wissen vermitteln, Informationen teilen, Lösungen entwickeln, Rechte sichern, Bewusstsein schaffen. Aktuell gefordert seien die KSL etwa, so Kolb, „wenn es um die Beseitigung von Mängeln im System geht, bei der Öffnung der Regelstrukturen für Menschen mit Behinderung zum Beispiel oder bei der Sicherstellung der Barrierefreiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen.“

Als einen der Erfolgsfaktoren der KSL nannte er das „Peer-Counseling“ der Zentren, also die Beratung und Unterstützung von Menschen mit Behinderung durch Menschen mit Behinderung. Rund 70 Prozent aller bei den KSL beschäftigten Personen haben selbst eine Behinderung. „Deren Kompetenz und Erfahrungswissen“, sagte Kolb, „machen die Arbeit so wertvoll und zugleich ist es ein best-practice-Beispiel für einen inklusiven Arbeitsmarkt.“

Begleitete Elternschaft, Elternassistenz und politische Partizipation

Das breite Spektrum der KSL-Aktivitäten illustrierten in Essen die Kompetenzzentren selbst an Beispielen aus der Praxis.
Das KSL für den Regierungsbezirk Arnsberg stellte zwei Konzepte vor, wie Eltern mit einer Behinderung unterstützt werden können: „Begleitete Elternschaft“ und „Elternassistenz“. Im ersten Fall engagiert sich das KSL für die Verbesserung der Lebenssituation von Familien mit intellektuell beeinträchtigten Eltern, und zwar durch den flächendeckenden Ausbau und die qualitative Weiterentwicklung bestehender Angebote, ein Handlungsfeld, das auch die Themenbereiche Kinderwunsch, Schwangerschaft und Trennung umfasst. Die Elternassistenz hingegen betrifft die selbstbestimmte Unterstützung körper- und sinnesbehinderter Eltern.

Viele Eltern mit Behinderung, gaben die beiden Referentinnen zu bedenken, scheuen den Kontakt zum Jugendamt, fürchten die Inobhutnahme ihrer Kinder. Zudem bestehe oft Unklarheit hinsichtlich der Unterstützungsmöglichkeiten und der Finanzierung. Geplant sind deshalb die Publikation eines Elternratgebers sowie die Begleitung eines von der Stiftung Wohlfahrtspflege geförderten Modellprojekts, das Leitlinien und Qualitätsmerkmale für die begleitete Elternschaft entwickeln soll.

Das KSL Detmold befasste sich in Essen mit dem Thema „politische Partizipation“. Hier ist nach Ansicht der Referentinnen Nordrhein-Westfalen mit dem Inklusionsstärkungsgesetz, dem Behindertengleichstellungsgesetz und entsprechenden Regelungen in der Gemeindeordnung gut aufgestellt, wenngleich, lautete die Einschränkung, „es oft Kann- und Soll-Bestimmungen sind“.

Entsprechend unterschiedlich die Realität in den einzelnen Landesteilen: In großen Städten gibt es Beiräte als Interessensvertretung von Menschen mit Behinderungen. Deren Mitglieder werden gewählt und die Ziele des Beirats in einer Satzung festgelegt, an die sich alle halten müssen. In anderen Kommunen hingegen gibt es lediglich Arbeitskreise, Gremien oder Behindertenbeauftragte: „Gerade in den kleineren Kommunen des Regierungsbezirks gibt es häufig noch gar keine Form der Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung.“
Hier Abhilfe zu schaffen, auch dazu sind die KSL angetreten – und können auch erste Erfolge vorweisen, so etwa bei der Unterstützung der Selbsthilfe vor Ort bei der Einrichtung eines Behindertenbeirates in der Stadt Lübbecke.

Teilhabe an Kultur und Sport, Merkzeichen „Taubblindheit“ und Gewaltprävention

Originell das „Kultur-Tandem“ des KSL für den Regierungsbezirk Düsseldorf, ein inklusives Kulturangebot, das dazu dient, „das Thema Inklusion auch jenen Menschen nahe zu bringen, die sonst kaum Berührungspunkte dazu haben.“ Das „Format zur Bewusstseinsbildung“ findet jedes Jahr an einem anderen Ort statt, und zwar in Form einer Tanzaufführung, einer Lesung, eines Konzerts oder Kabaretts. Dabei arbeiten Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung zusammen.

Nicht minder kreativ die Premiere von „Giro Inklusiv“. Mitorganisiert vom KSL Münster konnten so im vergangenen Jahr erstmals auch Menschen mit Behinderung beim traditionellen Sparkassen-Münsterland-Giro an einem inklusiven Rad-Rennen teilnehmen.

Beim Vortrag des Essener KSL-MSI ging es um die Bedeutung des Merkzeichens „TBl“ im Schwerbehindertenausweis, das für Taubblindheit, also eine Kombination von Seh- und Hörbehinderung, steht. Hier will das KSL unter anderem mit Veranstaltungen, Kooperationsprojekten und Öffentlichkeitsarbeit „Bewusstsein schaffen, weil es in der Gesellschaft keine oder oftmals eine falsche Wahrnehmung gibt, was Taubblindheit wirklich bedeutet“.

Von gleicher Relevanz das Thema, das in Essen das KSL für den Regierungsbezirk Köln zur Sprache brachte: „Gewaltprävention“. Laut einer Studie der Bielefelder Universität, war hier zu hören, sind Menschen mit einer Behinderung doppelt so oft Opfer von Gewalt wie Menschen ohne Behinderung: „Gewaltschutzmaßnahmen sowie mehr Schutz für Frauen und Mädchen gegen sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum sind also dringend erforderlich“, stellte die Referentin eindringlich klar. Das KSL selbst bietet Seminare zur Gewaltprävention an und bezieht dabei auch „strukturelle Gewalt in den Unterstützungs- und Betreuungsstrukturen“ mit ein.

Im Abschlussvortrag stand die wissenschaftliche Begleitung der Kompetenzzentren im Mittelpunkt. Sie obliegt dem „Bochumer Zentrum für Disability Studies“ (BODYS), geleitet von Theresia Degener, Professorin an der Evangelischen Hochschule RWL Bochum. Nach den bisherigen Erkenntnissen der Evaluatoren erweisen sich die KSL als konstruktive Einrichtung bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen.

Vielfalt und Qualität der vorgestellten KSL-Aktivitäten waren offensichtlich überzeugend. Stefanie El Miri von der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Integration der Europäischen Kommission jedenfalls zeigte sich am Ende der Veranstaltung von den vorgestellten Aktivitäten - wörtlich - „schwer beeindruckt“. Für sie ist Nordrhein-Westfalen beim Einsatz für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung auf einem guten Weg.